Ein tieferes Blau als der Nachthimmel, ein Gold, das wie die ersten Sonnenstrahlen leuchtet – und ein zartes Rosa, das an das Verblühen einer Pfingstrose erinnert. Farben sind mehr als nur visuelle Eindrücke. Sie sind Erinnerungen, Stimmungen, manchmal sogar Botschaften. Seit Jahrtausenden gewinnen Menschen ihre Farbwelten aus der Natur: aus Blüten, Wurzeln, Blättern, Rinden – echte Pflanzenpigmente, die nicht nur Farbe, sondern auch Geschichte tragen. Was einst eine Selbstverständlichkeit war, erlebt heute eine stille Renaissance – getragen von Künstler:innen, Designer:innen und Wissenschaftler:innen, die Farbe neu denken: als ästhetische Erfahrung, als ökologisches Statement und als Brücke zwischen Tradition und Zukunft.
Von der Höhlenwand ins Atelier – Die lange Geschichte pflanzlicher Pigmente
Die Geschichte der Pflanzenpigmente ist so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Bereits in der Altsteinzeit wurden Pigmente aus Erde, Holzkohle und Pflanzenextrakten für Höhlenmalereien genutzt – Spuren davon finden sich in den Lascaux-Höhlen in Frankreich.
Im Mittelalter bestimmten Färberpflanzen wie Färberwaid (Isatis tinctoria) und Krapp (Rubia tinctorum) nicht nur die Farbpalette der Textilien, sondern auch den Verlauf von Handelsrouten. Safran, Indigo oder Cochenille wurden zu begehrten Luxusgütern und beeinflussten sogar politische Machtverhältnisse.
Goethes „Farbenlehre“ oder Johannes Ittens Farbtheorien aus der Bauhaus-Zeit verweisen indirekt auf diese tiefe Verbindung zwischen Farberfahrung und Natur – eine Verbindung, die in der industriellen Moderne fast verloren ging.
Goethe: Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens, 1809
Der ökologische Wendepunkt – Warum wir wieder Pflanzenpigmente entdecken
Mit der Industrialisierung und der Erfindung synthetischer Farbstoffe im 19. Jahrhundert verschwanden Pflanzenpigmente fast vollständig aus dem Alltag. Die Vorteile der synthetischen Herstellung – Kosteneffizienz, Farbbrillanz, Massenproduktion – hatten jedoch einen unsichtbaren Preis: Viele dieser Pigmente basieren auf petrochemischen Grundstoffen, enthalten Schwermetalle oder setzen beim Abbau Mikroplastik frei.
Laut dem United Nations Environment Programme (UNEP) verursacht das Färben von Textilien rund 20 % der industriellen Wasserbelastung weltweit.
Naturfarbstoffe aus Pflanzen, Mikroben oder tierischen Quellen gelten hingegen als biologisch abbaubar und ungiftig, wie Forschungsübersichten zeigen (Journal of the Textile Institute).
Vor diesem Hintergrund entdecken Gestalter:innen und Forscher:innen pflanzenbasierte Pigmente neu – nicht aus nostalgischen Gründen, sondern aus der Notwendigkeit heraus, eine umweltverträgliche, gesundheitlich unbedenkliche und zugleich ästhetisch anspruchsvolle Alternative zu schaffen.
Wandgestaltung mit Naturfarben – ökologisch, gesund und stimmungsaufhellend.
Zeitgenössische Strömungen – Zwischen Atelier, Labor und Werkstatt
Während manche Künstler:innen die botanische Färbekunst als Hommage an alte Techniken verstehen, gehen andere einen forschenden Weg, der Natur und Technologie verbindet.
Die Berliner Textilkünstlerin Miriam Jochims etwa experimentiert mit Naturpigmenten aus Brennnesseln, Zwiebelschalen und Hibiskus – in ihren großformatigen Stoffarbeiten sind die Pigmente nicht nur Träger von Farbe, sondern auch Träger von Geschichten. Ähnlich verfährt Aboubakar Fofana aus Mali, dessen tiefes, fast schwarzes Indigo international ausgestellt wird (Design Museum London, 2023).
In den Niederlanden arbeitet das Studio von Tjeert Veenhoven an innovativen Materialien – unter anderem an AlgaeFabrics, bei denen Algen und Palmenblattfasern als ressourcenschonende Ausgangsstoffe dienen. Diese natürlichen Materialien lassen sich sowohl in der Malerei als auch im Produktdesign einsetzen. Auf seiner Studio-Webseite beschreibt Veenhoven, dass „Algaefabrics“ Ausdruck des nachhaltigen Kreislaufs sind, den sein Designstudio gestaltet – eine Farbe, die nicht einfach entsteht, sondern als Nebenprodukt eines bewussten Materialkreislaufs entsteht.
Auch Universitäten widmen sich dem Thema: Am Royal College of Art in London erforscht die Designerin Laura Perryman die sensorische Wirkung von Pflanzenpigmenten auf das Wohlbefinden, während das Fraunhofer WKI in Deutschland an standardisierten Bio-Pigmenten aus Lebensmittelresten arbeitet.
Baumrinde – voller Farben und ein inspirierendes Beispiel natürlicher Schönheit
Interieur – Räume, die mitatmen
Im Interior-Design erleben Pflanzenpigmente eine stille, aber stetige Rückkehr. Einige ökologische Wandfarbenhersteller setzen auf rein pflanzliche oder mineralische Farbstoffe, die atmungsaktiv sind und keine flüchtigen organischen Verbindungen (VOCs) abgeben.
Architekt:innen integrieren diese Farben gezielt in nachhaltige Raumkonzepte: Wände in sanften, naturbasierten Tönen aus Naturpigmenten wirken beruhigend, können das Raumklima verbessern und schaffen eine Verbindung zum Draußen. Studien im Journal of Environmental Psychology (2021) belegen, dass Naturtöne aus echten Pigmenten eine messbare Auswirkung auf Stressreduktion und Wohlbefinden haben.
Auch kleinere Objekte tragen diese Qualität in sich: Ein handgefärbtes Kissenbezug-Set aus pflanzengefärbter Baumwolle oder eine Vase in sanftem Krapp-Rot wird so nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein ökologisches Statement.
Die Ästhetik von Naturfarben und -materialien: Fenster in einem Lehmhaus. (Foto: Mudgirls Collective)
Inspiration für Zuhause – Natürlichkeit im Detail
Wer die besondere Wirkung von Pflanzenpigmenten in den eigenen Räumen erleben möchte, muss nicht gleich alle Wände neu gestalten. Oft genügen kleine, sorgfältig ausgewählte Akzente: Mit Pflanzen, natürlichen Dekoelementen, Kerzen und Naturfunden lassen sich Arrangements schaffen, die – in Kombination mit den warmen Nuancen der Naturfarben – eine besondere, stimmungsvolle Atmosphäre in der Wohnung entstehen lassen.
Eine handgegossene Sojawachskerze mit floralen Einschlüssen wie von The Munio (→ handgefertigte Kerzen aus Sojawachs mit Naturfunden) bringt nicht nur sanftes Licht, sondern auch ein Stück Natur ins Zuhause.
Ein Arrangement aus Naturfunden – Steine, Muscheln oder getrocknete Blüten – auf einem Sideboard oder einem schönen schwedischen Serviertablett aus Holz von Ary Home kann wie ein kleiner Naturaltar wirken und die besonderen Farbtöne der Fundstücke unterstreichen.
Solche Objekte wirken wie leise Farberinnerungen aus der Natur und schaffen eine Atmosphäre, in der Nachhaltigkeit nicht als Verzicht, sondern als Bereicherung empfunden wird.
Natürliche Farben, Naturfunde und Kerzen erzeugen zusammen eine wohlige Stimmung
Psychologie & Sinnlichkeit – Warum Naturfarben anders wirken
Die Wirkung pflanzenbasierter Pigmente entfaltet sich oft subtiler als die synthetischer Farben. Während industriell erzeugte Farbtöne absolute Homogenität anstreben, besitzen botanische Pigmente feine Nuancen, die sich mit dem Licht verändern. Dieses lebendige Farbspiel wird in der Farbpsychologie als „aktive Ruhe“ beschrieben – ein Paradox, das sowohl in minimalistischen Interieurs als auch in expressiver Kunst seinen Platz findet.
Farbtheoretiker:innen wie Faber Birren betonen, dass der menschliche Sehsinn besonders empfänglich für die organische Variation von Naturfarben ist. Das erklärt, warum eine mit Kurkuma gelb gefärbte Leinwand eine andere emotionale Resonanz erzeugt als ein digital gedrucktes Gelb.
Die Biophilie-Hypothese erklärt, warum Menschen besonders gut auf natürliche, fractalartige Muster reagieren – auch die lebendigen Nuancen von Pflanzenpigmenten können so eine aktive Ruhe im Raum vermitteln.
Laut der Attention Restoration Theory (ART) fördern selbst kurze Naturansichten Erholung und Konzentration – ein Effekt, der sich auch im bewussten Einsatz von Naturfarben zeigen kann. Darüber hinaus belegt eine Studie, dass das Betrachten von Pflanzentönen physiologisch entspannend wirkt.
Natürliche Farben in Erdtönen und eine Oase aus Pflanzen – das wirkt! (Foto: Summer Rayne Oaks)
Nahbarkeit & Experiment – Pflanzenpigmente zum Selbermachen
Die Faszination pflanzenbasierter Pigmente liegt nicht nur in ihrer Schönheit, sondern auch in ihrer Zugänglichkeit. Viele Farbstoffe lassen sich mit wenigen Zutaten selbst herstellen – oft aus Resten, die sonst im Bioabfall landen würden.
Ein einfaches Beispiel: Für ein warmes Rosé genügt es, einige Rote-Bete-Scheiben in Wasser zu köcheln, bis sich die Flüssigkeit intensiv färbt. Diese kann anschließend als Aquarellfarbe, Tintenbasis oder zum Färben kleiner Stoffstücke genutzt werden. Ähnlich erzeugt Kurkuma ein leuchtendes Gelb, das je nach Beize ins Grünliche oder Orangene spielen kann.
Solche DIY-Experimente sind nicht nur ein kreativer Zeitvertreib, sondern auch eine Möglichkeit, den Wert und die Einzigartigkeit von Farben wieder bewusst wahrzunehmen – und so das eigene Farbempfinden zu schulen.
Mit Indigo-Pflanzenpigment gefärbte Textilien – natürlich und kraftvoll.
Forschung & Zukunft – Pigmente im Wandel
Während wir in den Ateliers und Küchen unserer Gegenwart auf uralte Rezepte zurückgreifen, arbeitet die Forschung an der nächsten Generation pflanzlicher Pigmente.
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Mikroalgen könnten künftig Farben in industriellem Maßstab liefern, ohne Landflächen zu beanspruchen.
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Reststoff-Pigmente aus Zwiebelschalen, Avocado-Kernen oder Traubentrester verbinden Kreislaufwirtschaft mit Ästhetik.
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Hybrid-Materialien wie bioabbaubare Bindemittel auf Stärke- oder Caseinbasis könnten die Haltbarkeit von Pflanzenfarben erhöhen, ohne ihre Umweltfreundlichkeit zu mindern.
Diese Innovationen entstehen oft in Kooperation zwischen Designer:innen, Wissenschaftler:innen und traditionellen Handwerksbetrieben – ein kreativer Dreiklang, der sowohl der Umwelt als auch der Kultur zugutekommt.