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Nachhaltig Bauen und Dämmen mit Seegras aus der Ostsee

Alle sprechen über die Bauwende, dafür braucht es aber auch eine Materialwende. Seegras bietet sich als vielversprechende, kreislauffähige Alternative als nachhaltiges Dämmmaterial an. Jörn Hartje und Swantje Streich leiten gemeinsam den Seegrashandel an der Ostseeküste und setzen sich leidenschaftlich für eine neue Ära der Seegrasnutzung ein. Anlässlich ihrer Crowdfunding-Kampagne führte Lilli Green ein Interview mit dem Seegrashandel-Team, um mehr über die Möglichkeiten von Dämmen mit Seegras zu erfahren.

Die aktuelle Crowdfunding-Kampagne zielt darauf ab, die baurechtliche Zulassung von Seegras als Dämmstoff zu finanzieren. Unterstützer können nicht nur zur Verwirklichung dieses wichtigen Meilensteins beitragen, sondern auch von einer Vielzahl an Dankeschöns profitieren, darunter Produkte aus Seegras und wunderbare Unterkunftsmöglichkeiten an der Ostseeküste.

Wie seid ihr auf das Material Seegras gekommen, und wie ist die Idee entstanden, Seegras nicht nur als Baumaterial zu verwenden, sondern auch zu vertreiben?

Die Lehmbauerin Renata Wendt von der Lauenburgischen Lehmwerkstatt, mit mehr als 30 Jahren Berufserfahrung, sagte zu uns, als wir ein hundert Jahre altes renovierungsbedürftiges Haus kauften: zum Dämmen kommt nur Seegras in Frage! Moderne Dämmstoffe machen euch das schöne alte Haus kaputt! Seegras ist so wundervoll!

Jetzt wissen wir, was an Seegras alles wundervoll ist. Unter anderem dass es nicht brennt, nicht schimmelt und Tierchen es nicht mögen, weder Mäuse noch Wespen oder Hausstaubmilben.

Wir sammelten dann selbst Seegras am Strand und kauften die Restbestände von einem Seegrasprojekt im Nordwesten von Mecklenburg-Vorpommern, danach machte die Firma Konkurs.

Viele Menschen fragten uns in den Folgejahren, wo man Seegras herbekommt. Da die meisten keine Zeit haben, selber am Strand Seegras zu sammeln, haben wir dann irgendwann gedacht, warum bieten wir es nicht selber an? Also gründeten wir 2012 den Seegrashandel.Ernte von Seegras an der Ostsee

Bild: Joachim Ries

Wie erfolgt die „Ernte“ und welche Herausforderungen gibt es beim Einsammeln von Seegras?

Unsere Lieferanten sind dänische Landwirte. Ihre Wiesen grenzen direkt an die Ostsee. Das Ufer ist steinig und nicht sandig. Über Generationen hinweg wurde genau dort schon Seegras gefischt (früher in erster Linie für die Herstellung von Matratzen), da die Strömungen zuverlässig massenhaft anspülen. Mit dem Greifer eines kleinen alten Traktors/Baggers wird das Seegras weitgehend sandfrei direkt aus dem Wasser gefischt, in Haufen einen Tag lang abtropfen gelassen und dann mit landwirtschaftlichen Geräten auf Wiesen verteilt. Dort spült Regen Salz und Plankton ab und Wind und Sonne trocknen es. Dann wird es wie Heu zu Rundballen gepresst.

In Deutschland besteht der Wunsch, Strände seegrasfrei zu halten. Bei heutigen Strandreinigungsverfahren wird das Seegras mit einem sehr hohen Sandanteil vermischt, danach ist es für Dämm- und Polsterzwecke verdorben. Wir haben ein Konzept für eine Seegrasgewinnung und -aufbereitung an deutschen Küsten entwickelt und hoffen, dass es bald umgesetzt wird. Wir konnten bereits zeigen, wie man am Strand Seegras auch mit sehr geringem Sandanteil einsammeln kann: https://www.seegrashandel.de/2023/10/30/seegras-traeume-werden-wahr/

Seegras an der Ostsee

Welche Vorteile hat das Material Seegras im Vergleich zu anderen Dämmstoffen?

Es wird nicht angebaut oder hergestellt, es ist ein Geschenk der Natur, ähnlich wie Lehm. Es wird nicht die lebendige Pflanze geerntet, sondern nur Treibsel der Natur entnommen. Dies ist kein Raubbau, eine Reduzierung des Nährstoffgehalts des Ostseewassers hilft dem Ökosystem sogar gegen die Überdüngung. Algenhaltiges Treibsel, welches zum Küstenschutz an Stränden vergraben wird, gibt es noch genug. Beides gibt es in Massen: pures Seegras und Seegras-Algengemisch. Pures Seegras wird bisher nur zu einem winzigen Prozentsatz sinnvoll genutzt.

Darüber hinaus hat Seegras seine hervorragenden Eigenschaften wie Schimmelresistenz, Feuerresistenz, Ungezieferresistenz von Natur aus und es ist kein Hinzufügen von Borsalz o.ä. nötig. Die Dämmeigenschaften sind natürlich auch sehr gut, darüber hinaus der sommerliche Hitzeschutz und die Schallschutzwerte.

Wenn es in der Bauphase nassregnet, ist es absolut unproblematisch. Es ist jederzeit möglich, eine alte Seegrasdämmung neu zu verbauen oder sie im Garten zum Mulchen zu nutzen. Sie hält wirklich ewig. Die ganze Familie kann am Stopfvergnügen teilnehmen.

Alle sprechen von kreislauffähigem und klimaneutralem Bauen. Warum wird noch so wenig mit einem Material wie Seegras gedämmt?

Immerhin konnten wir bereits über 500 Baustellen beliefern und es wurden schon gut 15.000 Kubikmeter Seegrasdämmung verbaut. Seegras kann sicher nicht einen Großteil der vorhandenen Dämmstoffe ersetzen, aber wir haben einen riesigen Bedarf an Dämmstoffen, daher brauchen wir alle Dämmstoffe, vor allem die aus nachwachsenden Rohstoffen.

Bisher wird es hauptsächlich von privaten Bauleuten selber eingebaut. Zimmereien, die noch keine Erfahrungen damit gesammelt haben, nehmen solche Aufträge manchmal nur zögerlich an. Architekten war ist bis jetzt nicht möglich, damit zu arbeiten, weil die bauaufsichtliche Zulassung fehlte. Daher haben wir die aktuelle Crowdfundingaktion gestartet und hoffen bis spätestens Sommer 2024 die Zulassung zu haben.

Die Nachfrage ist auf jeden Fall sehr groß. Wir hoffen, dass mit der Zulassung und einem deutschen Seegras-Ernteprojekt das Ganze noch viel mehr ins Rollen kommt.

Ihr bewerbt die Crowdfunding-Kampagne mit „Seegras für Alle!“. Was braucht es, damit Seegras aus der Nische herauskommt, oder bleibt es verdammt, ein tolles Nischenmaterial zu bleiben?

Wir rechnen damit, dass es in den nächsten 2 Jahren einen ebenbürtigen Platz neben Hanf, Zellulosefasern, Stroh und Kork einnimmt.

Dafür ist neben der Zulassung vor allem ausreichend Seegras wichtig. Zusammen mit Zimmereien arbeiten wir an vereinfachten Dämmmethoden.

Was braucht es, damit Seegras vermehrt zum Einsatz kommt?

Die Bauaufsichtliche Zulassung ist die wichtigste Hürde. Und dann noch eine gut funktionierende deutsche Seegrasgewinnung, hier setzen wir auf einfache Technik.

Unseres Erachtens ist es sehr nachhaltig, möglichst wenig abhängig HighTech zu sein, daher setzen wir sowohl bei der Ernte als auch beim Produkt auf Einfachheit – Stichwort „Natürliche Intelligenz“ ; ) Geerntet wird mit bereits vorhandenen und bewährten landwirtschaftlichen Geräten und das Produkt ist Natur Pur in ursprünglichster Form.

Wir merken bei den Kunden ein großes Bedürfnis nach Einfachheit und Ursprünglichem, auch wenn manche gewohnte Verarbeitungsmethoden oder Denkmuster dabei verändert werden müssen.

Ist die Entwicklung und Nutzung von Seegras als Dämmstoff in anderen Ländern weiter fortgeschritten?

Nein. In Dänemark wird es bisher fast nur für Museumshäuser auf der Insel Læsø genutzt. In den USA war es vor hundert Jahren recht verbreitet, dann kamen „moderne“ künstliche Materialien auf, die man für besser hielt.

Historisches Seegras-Dach in Dänemark auf der Insel Læsø

Wenn ihr die baurechtliche Zulassung von Seegras als Dämmstoff erhalten habt, damit auch öffentliche Gebäude wie Kindergärten und Schulen mit Seegras gedämmt werden können, gibt es bereits konkrete Interessenten oder öffentliche Projekte, die Seegras verwenden möchten?

Ja, es sind zwei Ferienhaussiedlungen (eine davon mit 40 Häusern) geplant, außerdem gibt es Anfragen für einen Waldorfkindergarten, ein Gebäude von Stadtwerken, welches zu 100% aus nachhaltigem/recyceltem Material bestehen soll und mehrere Kirchen in Hamburg.

Wir planen auch selber, ein Seegras-Haus zu entwerfen und suchen dafür eine Zimmerei als Partner.

Fast täglich kommen neue Anfragen, wir sind gespannt auf die weitere Seegrasreise.

Mehr Infos: Seegrashandel.de

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1 Kommentar

  1. Die in der Crowdfunding Aktion angebotenen Geschneke haben übrigends alle einen Bezug zu Seegras oder Ostsee. Schot gerne mal rein!

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